RAUM FÜR UNERLEDIGTE GESCHICHTE(N)
Erwiderung
Wer dabei mitmacht
NS und Separatismus

Gerhard Gräber
Matthias Spindler

„Wer dabei mitmacht, muss damit rechnen,

den Kopf zu verlieren“ 1

Kriminalität, Kriminalisierung und Strafverfolgung im Zusammenhang des linksrheinischen Separatismus nach dem 1. Weltkrieg 




Im Frühjahr 1924 bekam Oberreichsanwalt Dr. Ludwig Ebermayer in Leipzig viel Arbeit aus der damals noch bayerischen Pfalz am Rhein: „Haftbefehl. Der am 22. Oktober 1886 zu Schifferstadt geborene Weinhändler Georg May, verheiratet, wohnhaft in Schifferstadt, ist zur Untersuchungshaft zu bringen, weil er dringend verdächtig ist, gemeinschaftlich mit anderen unternommen zu haben, einen Teil des Bundesgebietes vom Ganzen loszureißen“2, ein Verbrechen, strafbar nach §§ 81 Ziffer 3“  des  Strafgesetzbuchs – Hochverrat am Deutschen Reich –, für dessen Strafverfolgung der 1922 in Leipzig errichtete Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik zuständig war.

Die Urkunde, ausgestellt am 9. Februar 1924, war einer der ersten von einem Ermittlungsrichter des Staatsgerichtshofs auf Antrag des Oberreichsanwalts ausgesprochenen Haftbefehle gegen einen Pfälzer Separatisten. Er traf keinen Unwürdigen. Als militärischer Oberkommandierender und später Bezirkskommissar von Speyer gehörte Weinhändler May zum Führungspersonal jener Bewegung, die im November 1923 mit Waffengewalt gegen Bayerns Verwaltung in der Region geputscht und die „Autonome Pfalz“, unabhängig auch vom Reich, ausgerufen hatte.3

Um deren Schicksal sah es inzwischen gar nicht gut aus. Franz Josef Heinz (genannt Heinz-Orbis), Anführer der Separatisten und selbsternannter Präsident der Regierung der Autonomen Pfalz, war einen Monat zuvor einem Mordanschlag aus dem Rechtsrheinischen zum Opfer gefallen, die trauernd Hinterbliebenen zerfielen in rivalisierende Gruppen, die sich zu Diadochenkämpfen rüsteten. Derweil schmolz ihre Macht nach außen hin rapide, regte sich immer nachhaltiger der Widerstand innerhalb der pfälzischen Bevölkerung, nach Kräften gefördert von Bayern und der Reichsregierung. auf internationaler Ebene übte England, eine der alliierten Besatzungsmächte im Rheinland  nach dem 1. Weltkrieg. so massiven diplomatischen Druck auf die andere, Frankreich, aus, dass dieser die bisherige Parteinahme für die separatistische Bewegung in der (französisch besetzten) Pfalz zusehends zur Belastung wurde.

Entscheidender Grund für diesen politischen Gegenwind, den die Pfälzer Autonomisten seit der Jahreswende 1923/24 zu spüren bekamen, war die Tatsache, dass sich in der politischen und wirtschaftlichen Krise, die den Nährboden für Separationsbestrebungen bereitet hatte, im Laufe des Dezember 1923 Lösungen abzeichneten: Für die desolate wirtschaftlichen Lage nach Aufgabe des passiven Widerstandes konnte durch die Einführung der Rentenmark und Frankreichs Einwilligung in eine Prüfung der Reparationsfrage erstmals das Prinzip Hoffnung gelten eine Aussicht auf Besserung zugeführt werden; der Zusammenbruch der Republik unter den Schlägen von Rechts- und Linksputschen fand nicht statt.

Die Spannungen in der Pfalz kulminierten, am 12. Februar 1924, in einem Massaker an den Separatisten im Pirmasenser Bezirksamt. Das Ende der Autonomisten war aber schon Tage zuvor zwischen England und Frankreich vereinbart gewesen und wenige Tage nach dem Pirmasenser Blutbad wickelte ein nach Speyer entsandtes englisch-französisches Spezialkomitee die Autonome Pfalz offiziell ab. Mit der strafrechtlichen Aufarbeitung der Vorgänge aber ging es jetzt erst richtig los. Buchstäblich alle aktiven Separatisten der Pfalz, und hatten sie auch nur mal einen Tag lang die grün-weiß-rote Armbinde getragen, sollten nach dem Willen der bayerischen Staatsregierung für ihren Verrat büßen. Von Heidelberg aus, wo – im unbesetzten  deutschen Gebiet – Bayerns Abwehr-Zentrale, die „Haupthilfsstelle für die Pfalz“ residierte, spannte man die pfälzische Gendarmerie ein, um flächendeckend in den Besitz der erforderlichen personellen Informationen zu gelangen.

Die Gendarmeriebeamten, während der Separatistenherrschaft kaltgestellt und eben erst zur Amtsausübung zurückgekehrt, mussten ihre Recherchen vor der französischen Besatzung geheim halten, weil die sich als Preis für das Fallenlassen der Separatisten ein Repressalienverbot ihnen gegenüber ausbedungen hatte. Auf formlosen Handzetteln meist ohne eindeutige Anschrift und Unterschrift landeten die Gendarmerie-Dossiers, an den französischen Rheinwachen vorbeigeschmuggelt, in Heidelberg auf den Schreibtischen der Herren Bauer und Sachs. Das waren seit längerem schon von der Besatzungsbehörde aus dem besetzten Gebiet ausgewiesene Pfälzer Kriminalpolizisten aus Zweibrücken und Ludwigshafen, die bei der Haupthilfsstelle mit dem Sammeln strafrechtlich relevanter Fakten betraut waren.

Überprüfen konnten sie in ihrem badischen Exil die ihnen hinterbrachten Informationen nicht. Nötig gewesen wäre es, da die verbitterten Gendarmen zu Pauschalverurteilungen in Bausch und Bogen neigten, nach dem Muster, dem XX sei alles erdenklich Schlechte zuzutrauen, bis hin zu der (in einem der Dossiers auftauchenden) wahrhaft bestürzenden Eröffnung, einige der örtlichen Sonderbündler seien starke Zigarettenraucher!

Über Art und Umfang der behaupteten Verwicklungen in separatistische Umtriebe war den Denunziationslisten Stichhaltiges  eher selten zu entnehmen, am wertvollsten waren wohl die darin enthaltenen, für eine strafrechtliche Verfolgung unabdingbaren exakten Personalien von Übeltätern. Dingfest zu machen vermochte sie die Haupthilfsstelle dann aus anderweitig ihr zur Verfügung stehenden Quellen, die oft auch handfestes Beweismaterial erbrachten: Besucher aus der Pfalz wurden in Heidelberg penibel befragt, Spitzel und Überläufer verhört, die schriftliche Hinterlassenschaft der Separatisten aus ihren verlassenen oder gestürmten lokalen Hauptquartieren über den Rhein geschafft und ausgewertet.

Hunderte von Strafanzeigen wegen Hochverrats trafen so ab Februar 1924 aus Heidelberg beim Oberreichsanwalt in Leipzig ein. Selbst als die Haupthilfsstelle im Mai 1924 aufgrund ihrer Verwicklung in eine gegen die französische Pfalz-Besatzung gerichtete Regiefranken-Fälschungsaktion durch Badens Landesregierung geschlossen wurde4, setzten die Kommissare Bauer und Sachs ihre Tätigkeit fort – praktischerweise vom nahe gelegenen, doch zu Hessen gehörigen Neckarsteinach aus.

Freilich: Die emsigen Strafverfolgungsaktivitäten der bayerischen Abwehr in der Spätphase pfälzischer Separatistenherrschaft und den Monaten danach stehen in auffälligem Gegensatz zur diesbezüglichen Zurückhaltung in den Monaten zuvor. Eine Rolle dabei  spielte sicherlich der Unwille der bayerischen Justiz, derartige Strafverfahren einer Reichsinstanz zu übergeben; in den sogenannten Volksgerichten besaß der Freistaat eine eigene Sondergerichtsbarkeit zur Aburteilung politischer Delikte. Doch auch sie wurde gegen den Separatismus in der Pfalz nicht entschlossen ins Feld geführt.

Jedenfalls nicht auf so umfassend breiter Front wie später die Organe des Leipziger Staatsgerichtshofs. Denn zu einem bestimmten Zeitpunkt entsagte Bayern seiner Zurückhaltung auf spektakuläre Weise, im Januar 1924, als die Staatsanwaltschaft Würzburg Haftbefehle gegen gleich 19 Pfälzer Separatisten erließ. Nicht wegen Hoch-, sondern wegen Landesverrats zugunsten einer ausländischen Besatzungsmacht; darauf stand in Beayern gemäß zweier eigener Ausnahmeverordnungen vom 11. Mai und 1. Oktober 1923 die Todesstrafe, während das Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches für Hochverrat nach §81 Lebenslänglich als Höchststrafe vorsah.

Unter dem Datum des 9. Januar 1924 wurden die Haftbefehle ausgestellt, in den Tagen darauf in der Presse veröffentlicht.5 In der Nacht des 9. Januar, die dazwischen lag, ereilte Separatistenpräsident Heinz, der als erster auf der Liste der pfälzischen Landesverräter stand, vor Ort in der regionalen Verwaltungshauptstadt Speyer ein gewaltsamer Tod. Die Kugeln, die ihn niederstreckten, waren in Auftrag gegeben und finanziert worden von einer Dienststelle der bayerischen Staatsregierung, dem Staatskommissariat für die Pfalz in München; aller Wahrscheinlichkeit nach (die sich allerdings nur heutigen Historikern des Geschehens erschließt, die zeitgenössische Öffentlichkeit tappte hinsichtlich der Hintergründe des Attentats im dunkeln) mit stillschweigender Billigung seitens Ministerpräsident Knilling.6

Sollten die Würzburger Haftbefehle dazu dienen, dem Mordunternehmen (dem, wenn die Gelegenheit sich ergeben hätte, noch weitere Führungskräfte der Speyerer Separatistenregierung zum Opfer gefallen wären) einen Anschein rechtlicher Legitimation zu verleihen?

Dass die Liste der Gesuchten aussieht wie in großer Eile zusammengeschustert, stützt diese Vermutung. Unter den 19 Aufgeführten befanden sich längst nicht alle führenden Separatisten der Pfalz, während etliche der Genannten von allenfalls zweitrangiger Bedeutung waren. Es fiel wohl auch den Verfassern auf, da sie ein paar Tage darauf eine zweite Fahndungsliste mit über 50 neuen Namen nachreichten, die manches Versäumte korrigierte.7

Jetzt erst, Mitte Januar 1924, scheint man sich in bayerischen Amtsstuben durchgerungen zu haben zu einer konsequenten strafrechtlichen Würdigung der separatistischen Revolte; eine Entscheidung, die das systematische Erfassen personenbezogener und damit gerichtsverwertbarerer Daten und Fakten bedingte, die nach einigem Kompetenzgeplänkel mit dem Reich schließlich im täglichen Posteingang von Oberreichsanwalt Ebermayer landeten.

Bis dahin hatte man juristisches Einschreiten gegenüber Pfälzer Separatisten dem Zufall überlassen: Wenn einer derselben unvorsichtigerweise – oder besser: nichts Böses ahnend, weil es sich zumeist um ganz unbedeutende Leute handelte – die Rheingrenze überschritt, lief er Gefahr verhaftet zu werden. Die logistischen Voraussetzungen dafür waren vorhanden, Badens Polizei- und Justizorgane es gewohnt, mit Bayerns Heidelberger Abwehrstelle zusammenzuarbeiten, und Staatsanwalt Schülein vom Landgericht Würzburg – der Pfalz am nächsten gelegen im unbesetzten bayerischen Gebiet – kümmerte sich seit längerem schon um ertappte politische Missetäter aus der Pfalz.

Aufgebaut war der gut  eingespielte Überwachungs- und Verfolgungsapparat seit Frühjahr 1923, zur Zeit des Ruhrkampfes. Gegen Frankreichs und Belgiens militärische Besetzung des Ruhr-Reviers im Januar 1923 hatten Reichs- und Landesregierungen den „passiven Widerstand“ ausgerufen. Dieser galt auch für das altbesetzte rheinische Gebiet, die Pfalz eingeschlossen, und verlangte von denBeamten wie der Bevölkerung dort Heldenhaftes, nämlich unbotmäßiges Verhalten gegenüber Ansprüchen der Besatzung, die mit dem Ruhreinmarsch in Zusammenhang standen. Wobei Bayern der Forderung vaterländischen Wohlverhaltens dadurch Nachdruck verlieh, dass es mit seiner Verordnung vom 11. Mai 1923 jegliche „Vorschub“-Leistung der Besatzung gegenüber unter schwere Strafe stellte: „Zuchthaus nicht unter zehn Jahren“8. Das hatte Reichspräsident Friedrich Ebert in einer reichsweit geltenden Notverordnung vom 3. März 1923 lediglich für den Tatbestand der „Spionage“ zugunsten Frankreichs oder Belgiens angedroht.

Für Bayerns Landeskinder in der Pfalz bedeutete es eine gründliche Kriminalisierung alltäglicher Handlungen, die unter normalen Umständen gänzlich harmlos gewesen wären. Doch wer nun etwa mit der Eisenbahn fuhr, die im besetzten Gebiet seit April 1923 von den beiden westlichen Besatzungsmächten in eigener Regie betrieben wurde, stand schon mit einem Bein im Zuchthaus. Und je länger der passive Widerstand andauerte, desto enger wurder angesichts rigoroserer Gegenmaßnahmen der Besatzung der Spielraum für politisch neutrale, unverdächtige Privatheit. Bald musste, wer einfach nur überleben wollte, sich entweder an der Reichs- oder an der Besatzungspolitik versündigen.

Mit der unvermeidlichen Folge, dass links des Rheins traditionelle staatsbürgerliche Loyalitäten ins Wanken gerieten, umso mehr, als die Fremdmächte sich auf die Dauer als die stärkeren erwiesen. Ende September 1923 brach die Regierung von Reichskanzler Stresemann den passiven Widerstand ab, weil er nicht allein dem besetzten deutschen Gebiet eine tiefe wirtschaftlich-politische Krise nebst galoppierender Inflation beschert hatte. Die Menschen im Rheinland und der Pfalz ließ die Kapitulation im Ruhrkampf in völliger Ungewissheit über ihre Zukunft zurück.

Nicht zuletzt in staatsrechtlicher Hinsicht: Das bislang Undenkbare, eine Lockerung ihrer Bindungen an das Deutsche Reich, schien unausweichlich geworden, unabhängig davon, ob und wie weit der einzelne mit einer solchen Entwicklung einverstanden sein mochte. Die Separatisten der Autonomen Pfalz als Verfechter einer totalen Abtrennung bildeten lediglich das Extrem einer Volksmeinung in der Pfalz, die - späteren  Beteuerungen unverbrüchlicher Reichstreue zum Trotz - im Herbst 1923 nicht mehr damit rechnete, dass alles blieb, wie es einmal war.9

Und die Unsicherheit über die weitere Entwicklung am Rhein hatte auch die Regierungen und Politiker der betroffenen Reichsländer mitsamt der Reichsregierung erfasst, die –entgegen ihren flammenden Protesterklärungen in der Öffentlichkeit- ebenfalls bis zur allmählichen Änderung der politischen Großwetterlage in Europa um die Jahreswende 1923/24 nicht davon ausgehen konnten, dass sich am Status ihrer linksrheinischen Territorien nichts ändern würde.
Im Falle Bayerns gar erfolgte die offizielle Verurteilung des pfälzischen Autonomisten-Putsches erst zehn Tage nach der Proklamation der Autonomen Pfalz vom 5. November 1923 in Kaiserslautern und fiel reichlich unverbindlich aus.10 In dieser abwartenden Haltung, ist auch das Motiv für die Zurückhaltung zu suchen, die Bayern und auch der Oberreichsanwalt, der ja von sich aus nicht tätig wurde, bis dahin in punkto Strafverfolgung der pfälzischen Separatisten übten.

Aber auch der kriminalistische und juristische Übereifer nach dem politischen Umschwung sollte letztendlich ins Leere laufen, ja wurde geradezu politisch als kontraproduktiv betrachtet. Irgendwann dämmerte es den Verantwortlichen, dass eine extensive Verfolgung der separatistischen Aktivisten und Parteigänger eine Legende zerstören würde, mit der man die Ereignisse politisch bewältigen wollte, die Legende vom treudeutschen pfälzischen Volk, das nur von einer Handvoll von den Franzosen gekauftem Gesindel drangsaliert worden sei und sich angesichts der Besatzungssituation nicht zur Wehr setzen konnte. Bayerns Justizminister Gürtner kam zur Erkenntnis, dass ein massenhaftes Vorgehen nicht zu verwirklichen sei.11 Es würde einerseits in der Pfalz ein Klima der Denunziation schaffen und andererseits französische Repressalien auslösen. Es müsse, so seine Anweisung, vor jeder Verhaftung, die ja ohnehin nur im Rechtsrheinischen vorgenommen werden konnte, sorgfältig geprüft werden, ob das Gewicht der Persönlichkeit, die Rolle, die sie bei den Separatisten gespielt habe, es rechtfertige, französische Repressalien in der Pfalz in Kauf zu nehmen.

Zu merkwürdigen Verhaftungen kam es im Frühjahr 1924 dennoch. Ein Neustadter Autohändler, gebürtiger Elsässer, wollte seine Nichte nach einem Wochenendbesuch wieder zu ihren Eltern nach Heidelberg bringen. Im Wartesaal des Bahnhofs Mannheim wurde er von Polizisten verhaftet. Er galt als Separatist der ersten Stunde in Neustadt. Bei ihm sollen im Oktober 1923 Vorbereitungstreffen stattgefunden haben. Politisch war er aber in der Autonomen Pfalz nie in Erscheinung getreten. Es war also allenfalls eine Verhaftung aufgrund der ihm unterstellten Gesinnung. Konkrete Taten konnten ihm nicht vorgeworfen werden. Angesehene Neustadter Bürger und die Franzosen setzten nach mehrwöchigen Bemühungen seine Haftentlassung durch.12

Ein politisch spektakulärer Fall war der des Bürgermeisters von Kusel. In München fand Ende Mai 1924 ein Treffen von Bürgermeister bayerischer Landgemeinden statt. Der Sozialdemokrat vertrat dort die 92 Landgemeinden des Bezirks Kusel. Aus der Mitte der Versammlung heraus wurde er  festgenommen und abgeführt. Man warf ihm vor, an Ausweisungen aus dem besetzten Gebiet beteiligt gewesen zu sein und den Separatisten die Loyalitätserklärung unterschrieben zu haben. Noch in München protestierten andere sozialdemokratische Bürgermeister aus der Pfalz beim Innenminister und in der Pfalz warnte die „Pfälzische Freie Presse“ alle pfälzischen Landsleute vor Fahrten ins Rechtsrheinische, denn dort seien alle Pfälzer  unter dem Vorwand der Separatistenhatz quasi außerhalb des Rechts gesetzt. Das Parteiorgan baute zudem noch ein wirksames Drohpotential auf. Wenn die kategorische Freilassung des Genossen nicht in Kürze erfolge, werde man enthüllen, was im Zuge der Separatistenbewegung für Abwehraktionen durch die Heidelberger Stellen dirigiert worden seien. Wenige Tage später hatte Kusel wieder seinen Bürgermeister.13

„Die Angeklagten sind gut gekleidet, aber ihr Gesichtstausdruck ist nicht gerade vertrauenserweckend.“ So die Einschätzung des bayerischen Berichterstatters14 vom ersten großen Separatistenprozess vor dem Süddeutschen Senat des Staatsgerichtshofes zum Schutze der Republik vom 15. bis 17. Mai 1924. Acht junge Männer, die im Zusammenhang mit der pfälzischen Separatistenbewegung standen, und ein weiterer Pfälzer, der wegen Beteiligung an separatistischen Aktionen im Rheingau angeklagt war, standen wegen Beihilfe zum Hochverrat vor dem Stuttgarter Gericht. Alle Angeklagten waren zweit- und drittrangige Separatisten, die aus irgendwelchen Notlagen heraus in separatistische Dienste getreten waren. Der eine putzte mal das von den Separatisten besetzte Regierungsgebäude in Speyer, ein anderer spionierte im Badischen die Abwehrmaßnahmen aus und wieder andere waren über die Regiebahn zur separatistischen Miliz gelangt. Der Reichsanwalt bezeichnete in seinem Anklageplädoyer die Beschuldigten nur als „eine Auslese von Pfalz-Separatisten“, es seien noch einige Fälle in Vorbereitung. Obwohl er selbst einräumte, dass keiner der Angeklagten als Separatistenführer zu bezeichnen war, beantragte er drastische Freiheitsstrafen von sechs bis zehn Jahren Zuchthaus und entsprechendem Ehrverlust. Die Verteidigung  argumentierte vor allem mit dem subjektiven Verständnis der Angeklagten, die angaben, von einer Loslösung nur von Bayern ausgegangen zu sein. Auch hätten bayerische Beamte sich der Bewegung angeschlossen, was zu einer Verwirrung der Angeklagten geführt habe. Keine ehrlose Gesinnung, sondern Not und Idealismus hätte die Angeklagten zu ihren Handlungen getrieben. Zwar blieben die Urteile unter den Forderungen des Reichsanwalts, waren aber dennoch saftig: vier bis sechs Jahre Zuchthaus und entsprechender Ehrverlust. In der Urteilsbegründung wurde ausdrücklich betont, dass den von der  Verteidigung vorgebrachten mildernden Umständen keine Rechnung getragen werden konnte, weil dies nur noch Festungshaft bedeutet hätte, und Festungshaft sei eine Ehrenstrafe. Der Staatsgerichtshof sei jedoch der Meinung, dass Deutsche, welche es fertig brächten, mit Hilfe des Erbfeindes Hochverrat zu begehen, der „allgemeinen Verachtung“ preis gegeben seien. Hitler wurde bekanntlich wenige Monate zuvor zu Festungshaft verurteilt. Die Republik zerstören zu wollen war offensichtlich nichts Verabscheuungswürdiges.

Das Stuttgarter Verfahren blieb der einzige Separatistenprozess im engeren Sinne, bei dem es offiziell um separatistischen Hochverrat ging. Prozesse gegen echte oder vermeintliche Separatisten sollte es aber noch unzählige geben.

Auf internationalem Parkett trug die Arbeit der Dawes-Kommission  zur Lösung der Reparationsfrage langsam Früchte. Miteingeschnürt in das Verhandlungspaket für die Londoner Konferenz im August 1924 war auch die Frage der sogenannten Ruhrgefangenen und die Rückkehr der Ausgewiesenen, die Frankreich nur frei- bzw. zurückkehren lassen wollte gegen eine Amnestie für Separatisten und für Vergehen gegen deutsche Gesetze im passiven Widerstand. Es ging also um eine Ausweitung der in Speyer im Februar 1924 schon für die Pfalz getroffenen Vereinbarungen für ganz Deutschland.

In Bayern wollte man von solch einem Tauschgeschäft nichts wissen15, während das Reich und Preußen schon im Juni in einer Art  „good will“ – Geste von sich aus die von deutscher Seite während des passiven Widerstandes Verurteilten amnestierte. Aber auch München konnte letztlich nicht verhindern, dass Deutschland im Londoner Abkommen mit den Alliierten einer Amnestie zustimmen musste, die das Verbot jeglicher Strafverfolgung oder sonstiger Benachteiligung festschrieb für alle Taten und Verhaltensweisen überwiegend politischer Natur, die zwischen dem 11. Januar 1923 und dem Inkrafttreten des Abkommens lagen. Bereits verhängte Strafen sollten von beiden Seiten wieder aufgehoben werden. Ausgenommen waren „Verbrechen gegen das Leben, die den Tod herbeigeführt haben“.16
Die in Stuttgart Verurteilten mussten wieder auf freien Fuß gesetzt werden. 1930 bei endgültiger Räumung des linksrheinischen Gebietes von den Besatzungstruppen wurde diese Amnestie nochmals bekräftigt.

Die ganze Ermittlungsarbeit, das Anlegen von umfangreichen Separatistenkarteien sollte allerdings nicht umsonst gewesen sein und wurde auch über das Londoner Abkommen hinaus weiter fortgesetzt. Die Behörden unterliefen die Amnestie und verlegten sich auf indirekte Sanktionen: bürokratische Schikanen, wirtschaftliche Schädigung, Rufmord und besonders aufmerksame strafrechtliche Verfolgung bei vergleichsweise harmlosen anderen Delikten. In der Pfalz wurden die Separatisten zur Projektionsfläche der eigenen nationalen Wankelmütigkeit im Herbst 1923 als  eine große Mehrheit staatsrechtliche Änderungen ob gewollt oder nicht als unausweichlich erachtete. Die psychologische Bewältigung der damit verbundenen Schuldgefühle produzierte eine gnadenlose soziale Ächtung jener, die sich als Anhänger der Autonomisten zu erkennen gegeben hatten.

Eine besonders effektvolle Weise, Separatisten trotz Amnestie einer Art Bestrafung zuzuführen, die eher an den mittelalterlichen Pranger als eine moderne Justiz erinnert, waren Beleidigungsprozesse. Sie setzten bereits 1924 ein und nahmen in den Folgejahren das Ausmaß einer Lawine an. Denn auch etliche Veteranen und Mitläufer der Bewegung von Heinz mochten sich inzwischen, da die Bezeichnung „Separatist“ links des Rhein s zum schlimmsten vorstellbaren Schimpfwort geworden war, nicht mehr zu ihrer Vergangenheit bekennen. Wurde sie ihnen zum Vorwurf gemacht, konnten sie das nicht einfach auf sich sitzen lassen. Also zogen sie wegen Beleidigung vor Gericht – um dort im Regelfall zu erleben, wie sich die Verhandlung in ein Aufsehen erregendes Tribunal gegen den nominellen Kläger verwandelte, dessen Beteiligung an den separatistischen Umtrieben durch Dokumente oder Zeugen oft bis in Details nachgewiesen wurde. Den Gerichtssaal verließ er zwar straflos, doch erst recht gebrandmarkt.

Genau diese Methoden öffentlicher Anprangerung machte sich in der Pfalz die NSDAP zu Nutzen und instrumentalisierte Separatismus und seine politischen und justizielle Bewältigung als Vehikel für ihren Aufstieg in der Region. Zielscheibe der NS-Agitation bildeten aber nicht Größen oder Mitläufer einer Bewegung, die längst verloren hatte, sondern die aktuell führenden Köpfe der etablierten Parteien in der Pfalz, die kommunalpolitische Elite der Region, die meist schon seit Jahren Ämter und Würde innehatten. Zurzeit des „passiven Widerstandes“ und anschließender Separatistenherrschaft waren sie konfrontiert gewesen mit Ansprüchen von Franzosen und Autonomisten, waren oft gezwungen Kompromisse einzugehen, um die Verwaltung nicht ganz aus der Hand geben zu müssen, trugen vielleicht auch aus egoistischen Gründen auf zwei Schultern Wasser. Ihre flexible Haltung zwischen Widerstand und Kollaboration, die sie aber später leugneten und lieber das hehre Bild treudeutscher Standfestigkeit pflegten, machte sie politisch verwundbar, lieferte sie der nationalsozialistischen Agitation gnadenlos aus.

Im März 1926 veröffentlichte die NS-Presse ein vertrauliches Schreiben17, das Hans Horländer, der Erste Bürgermeister von Edenkoben, im November 1923 an einen Funktionär der Separatisten geschickt hatte, mit dem Angebot der Zusammenarbeit gegen Schutz für seine Person. Der Brief war echt, sein Verfasser musste auf der Stelle seinen Hut nehmen.

Im selben Frühjahr 1926 wurde publik, dass Hermann Hofmann, langjähriger Reichstagsabgeordneter der pfälzischen Zentrumspartei aus Ludwigshafen, im Frühjahr 1919 leidenschaftlicher Verfechter einer Loslösung der Pfalz vom Deutschen Reich gewesen war und hinter den Kulissen darüber bereits Verhandlungen mit den Franzosen geführt hatte. In aller wünschenswerten Deutlichkeit ging es hervor aus dem urplötzlich aufgetauchten Protokoll einer damals abgehaltenen geheimen Honoratiorenversammlung in Landau; Auszüge daraus druckte der „Eisenhammer“ 18, das marktschreierische Kampforgan der pfälzischen NSDAP, über volle drei Zeitungsseiten hinweg ab. Trotzdem blieb Hofmann der jähe Karriereknick erspart, vor allem, weil er seinen Schritt seinerzeit rasch wieder bereut und sich von ihm distanziert hatte.

Weit wirksamer noch in dieser Richtung aber dürfte die Presse- und bald auch Prozessfehde gewesen sein, die vom „Eisenhammer“ im Mai 1926 gegen Dr. Richard Forthuber eröffnet wurde.19 Sie geriet zum Dauerbrenner nationalsozialistischer Agitation in der Pfalz bis 1933, der Angegriffene selbst dabei zur regionalen Symbolfigur des verhassten „Systems“ der Weimarer Republik.

Forthuber, Berufsbürgermeister von Neustadt,war ein Meister in der Politik des geschickten Taktierens, um nicht zu sagen Lavierens; er hatte weder, wie mancher Amtskollege, darauf verzichtet, mit dem örtlichen französischen Delegierten gesellschaftlichen Verkehr zu pflegen, noch sich davor gescheut, die grün-weiß-rote Fahne der „autonomen Pfalz“ an seinem Rathaus neu aufstecken zu lassen, als sie einmal von Gegnern derselben während der Separatistenzeit entfernt worden war. Weiteres in ihren Augen Anstößiges an seinem Verhalten zu finden und in der Debatte nachzuschieben, bereitete den NS-Propagandisten keine Schwierigkeiten. Dabei kam es nicht auf den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe an, sondern auf die Wirkung: Irgendetwas würde in der aufgeheizten Atmosphäre pfälzischer Separatistenhatz immer hängen bleiben. Die Angreifer Forthubers legten es geradezu darauf an in eine Kette von Prozessen verwickelt zu werden, obwohl Heinrich Foerster, Redakteur des „Eisenhammer“, und Josef Bürckel, der spätere Gauleiter, mitunter zu schmerzhaften Strafen verurteilt wurden. Dafür entschädigte sie der Wirbel, den sie entfachten, nicht selten in Form minutiöser Prozessberichte in der gesamten Tagespresse der Pfalz. Und dass Forthuber sich hartnäckig weigerte zurückzutreten, Neustadts Stadtratsmehrheit sich demonstrativ vor ihren Bürgermeister stellte, verstärkte bei NS-Anhängern und solchen, die im Begriff waren es zu werden, nur mehr den Eindruck, hier werde gegen uneinsichtiges, verfilztes Bonzentum ein heroischer Kampf bis hin zur Selbstaufopferung geführt.

An der Wahlurne jedenfalls scheint sich die verbissen geführte antiseparatistische Kampagne der pfälzischen NSDAP, für welche die Fälle Forthuber, Hofmann und Horländer lediglich drei der spektakulärsten Beispiele sind, handfest ausgezahlt zu haben. Bei den Reichstagswahlen 1928 errang sie mit 5,7 Prozent der Stimmen mehr als doppelt so viel wie im Reichsdurchschnitt und in den Jahren danach, als die Stimmenanteile gewaltig in die Höhe schnellten, gehörte die Pfalz weiterhin zu den Wahlkreisen, „die am deutlichsten braun eingefärbt waren“.20 Bei der Analyse zu berücksichtigen sind allerdings neben den geistigen Folgeerscheinungen der bis 1930 andauernden französischen Besetzung des Landes deren wirtschaftliche Auswirkungen. Nach wie vor litt die Pfalz unter überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit, im Wesentlichen eine Spätfolge der Ruhrkampf-Krise des Jahres 1923.

Noch vor 1933 war auch zu registrieren, dass sich die Separatismus-Auffassung, wie sie die NSDAP vertrat, in der öffentlichen Meinung der Region und der Rechtssprechung pfälzischer Gerichte niederzuschlagen begann. Nach einem Urteil des Landgerichts Frankenthal vom Frühjahr 1931, das sich auf die Ansicht der Bevölkerung“ berief, durfte der Bürgermeister des Winzerdorfes Flemlingen bei Landau bereits deshalb als Separatist bezeichnet werden, weil er gegen Anordnungen der „autonomen Pfalz“ keinen Widerstand geleistet hatte – Separatismus durch Unterlassen.21 Und im April 1931 gab das gleiche Landgericht Frankenthal Adolf Hitler die Gelegenheit, als Zeuge in einem Meineidsprozess zu beschwören, niemals  Verbindungen zum pfälzischen Separatistenchef Franz Josef Heinz gehabt zu haben. Obwohl einige weitere Zeugenaussagen dem entgegenstanden, schenkte das Gericht in seinem Urteilsspruch Hitlers Angaben ausdrücklich Glauben.22

Dass  die Nationalsozialisten zum Thema Separatismus nur ein instrumentelles Verhältnis hatten wird ab 1933 deutlich.23 Wer jetzt damit gerechnet hatte, dass die Separatisten neben den Kommunisten und anderen Oppositionellen als erstrangige Staatsfeinde mit unerbittlicher Härte verfolgt würden, wurde eines Besseren belehrt. Zwar wurden viele als führende Separatisten bekannte Pfälzer 1933 wie andere politische Gegner vorübergehend in Schutzhaft genommen. Oder es gab Kampagnen, in denen wie in Schifferstadt ehemalige Separatisten in einem „Schandmarsch“ durch die Stadt geführt wurden. Aber eine systematische Verfolgung ehemaliger noch in der Pfalz befindlicher Separatisten fand nicht statt. Das hätte auch das Absägen des Astes, auf dem man saß, bedeutet. Von der sozialen Zusammensetzung her stützten sich die Nationalsozialisten auf eine ähnliche Klientel wie die Separatisten: deklassiertes Kleinbürgertum, politisch ungebundene Arbeiterschaft. Weite Teile der ehemaligen separatistischen Sympathisantenschaft waren inzwischen stramme Nationalsozialisten geworden.

Im Übrigen griff die Politische Polizei auf die seit 1924 erstellten Separatistenlisten zurück, wenn Überprüfungsanträge gestellt wurden. Da wurde dann amtlicherseits als Separatisten festgestellten Personen mal der Angelschein verweigert oder der Handelsgewerbeschein nicht zugeteilt wegen politischer Unzuverlässigkeit, ab und an auch die Kinderbeihilfe nicht gezahlt oder das Ehrenzeichen als Weltkriegsteilnehmer aberkannt. Als ehemalige Separatisten enttarnte NSDAP-Mitglieder wurden ausgeschlossen, aber meist nicht weiter behelligt.

Ab 1939, im Zuge der Kriegsvorbereitungen, wurde systematischer nach früheren Separatisten in heereswichtigen Betrieben gesucht. Sie wurden auf Antrag der Arbeitsämter überprüft und mussten bei positivem Ergebnis den Arbeitsplatz räumen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die offizielle Anweisung Hitlers, zwischen Aktivisten und Mitläufern zu unterscheiden und letztere gnädig zu behandeln. Das ist sicherlich der schlüssigste  Beweis dafür, dass man es sich beim Vorgehen gegen ehemalige Separatisten mit der eigenen Anhängerschaft nicht verderben wollte.

Kein Pardon kannte man allerdings, wenn man nach der Besetzung Frankreichs 1940 ehemalige führende Separatisten aufspürte und ihnen hochverräterische Aktivitäten nach 1930 (Amnestie) nachweisen konnte. Nach diesem Personenkreis wurde auch systematisch gefahndet. Einige Todesurteile oder langjährige Zuchthausstrafen für ehemalige pfälzische Separatisten, verhängt vom Volksgerichtshof, sind dokumentiert. In den Urteilsbegründungen wurden jeweils ausgiebig die separatistischen Aktivitäten 1923/24 gewürdigt, obwohl sie nicht  Gegenstand der Anklage waren, denn so diktierte es Roland Freisler in eine seiner Urteilsbegründungen: „Der separatistische Hochverrat ist der gemeinste, den Deutschland in unserer Generation hat erleben müssen. Wer dabei mitmacht, muss damit rechnen, den Kopf zu verlieren.“ 24

Dass die Einschätzung Freislers in Juristenkreisen auch noch nach 1945 ungebrochen wirksam war, belegt ein Urteil des pfälzischen Oberlandesgerichts von 1953. Hier wurde der Entschädigungsantrag der Witwe des  Schifferstadter Separatistenführers Georg May – 1937 in KZ-Haft in Dachau „auf dem Weg zur Überführung in ein Krankenhaus“ 25 erschossen – letztinstanzlich abgelehnt.  „Die separatistische Betätigung“, so die Richter in ihrer Begründung, sei „keine achtbare politische Handlung im Sinne des Entschädigungsgesetzes“. Alle Nationen unseres Kulturkreises hätten ohne Rücksicht auf die Art ihres politischen Systems den Separatismus abgelehnt und verfolgt.26

War es dann Rechtens, sie einfach zu erschießen?

Die Frage ist nicht nur rhetorisch zu verstehen. Der gesamte thematische Komplex Separatismus und Kriminalität ist immer auch durchdrungen von den kriminellen Handlungen der staatlichen und privaten Separatistenabwehr. Oder wie anders ist es zu bewerten, wenn staatliche Stellen Mordaufträge erteilen und finanzieren, pikanterweise als Täter per Haftbefehl gesuchte rechtsradikale Gewalttäter anheuern, wie im Falle des Attentats auf Heinz geschehen? Wie sind die Eisenbahnanschläge von Kommandotrupps der schwarzen Reichswehr zu bewerten, die während des passiven Widerstandes auf Personenzüge verübt wurden, um die Pfälzer vom Mitfahren abzuhalten? Oder wie ordnen wir das Massaker von Pirmasens ein, das auch auf rechtsrheinischer Vorbereitung beruhte und keineswegs bloß dem Affekt des Volkszorns zuzuschreiben ist?

Eine Geschichte der justiziellen Aufarbeitung dieser Fragen lässt sich allerdings nicht schreiben. Denn sie hat nicht statt gefunden.

 

Anmerkungen

1  Aus der Urteilsbegründung in einem Volksgerichtshofprozess gegen einen
    Separatisten, in: Archiv für Zeitgeschichte Fa 117/347
2  In einer Ausfertigung vom 11.2.1924 im Bundesarchiv, R 3003 ORA RG 12 J 34/24 2. Bd.
3  Vgl. – auch im folgenden – Gräber/Spindler, Revolverrepublik am Rhein, a.a.O., soweit es
    um die Entstehungsgeschichte des pfälzischen Separatismus und den Aufbau eines
    einschlägigen bayerischen Abwehrapparates geht.
4  Vgl. Ernst Otto Bräunche, Die Pfalz muss deutsch bleiben. Finanzierung und Organisation
    der Abwehr gegen separatistische Bestrebungen in der Rheinpfalz 1918-24, in: Festschrift
    zum 100jährigen Bestehen der Pfälzischen Hypothekenbank, T.2 Speyer 1986, S.227ff.,
    hier: S.244f.
5  Z.B. in der „Bayerischen Staatszeitung“ vom 11.1.1924
6  Knilling unterzeichnete am 28.12.1923 eine geheime Anweisung an das bayerische
    Staatsministerium der Finanzen, umgehend den Betrag von 40.000 Goldmark zur
    Aktivierung der Separatistenabwehr in der Pfalz zur Verfügung zu stellen. Dass damit
    ein Attentat finanziert werden sollte, wird in dem Schreiben nicht gesagt, aber das Geld
    - eine außergewöhnlich hohe Summe, die alle Maßstäbe bisheriger Abwehrarbeit sprengte-
   werde für den Einsatz rechtsrheinischer (d.h. Münchener) Kräfte in der Pfalz benötigt, und
   genau dies geschah dann beim Attentat auf Heinz.
7 „Bayerische Staatszeitung“ vom 18.1.1924. In dieser Liste waren neben nachgereichten
   führenden Separatisten noch mehr „kleine Fische“ verzeichnet, so dass sie wohl als der
   eigentliche Auftakt zur umfassenden Strafverfolgung pfälzischer Separatisten durch
   Bayern anzusehen ist.
8 Vgl. Gräber/Spindler, Revolverrepublik am Rhein, a.a.O., S.132. Durch eine Verordnung
    des bayerischen Generalstaatskommissars Kahr am 1.10.1923 wurde die Strafandrohung
    verschärft: Von nun an stand auf Vorschub-Leistung für eine Besatzungsmacht die Todes-
    strafe.
9  Vgl. Gerhard Gräber/Matthias Spindler, 100 Tage Autonome Pfalz (1923/24). Einige
    Thesen zu Legenden und Wirklichkeit. In: Wilhelm Kreutz/Karl Scherer (Hrsg.), Die
    Pfalz unter französischer Besetzung (1918/19-1930), Kaiserslautern 1999, S.187ff.,
    v.a. S.193-195.
10  Der Aufruf „Pfälzer Landsleute!“, gezeichnet  von Ministerpräsident Knilling unter dem
      Datum des 15.11.1923 erschien auf der ersten Seite der „Bayerischen Staatszeitung“ des
       gleichen Tages.

11  Gürtner an Pfalzkommissar Wappes v. 27.3.24 in Bayerisches Hauptstaatsarchiv
      (BayHStA)  MA 107 659
12  Delalande an de Metz v.26.4.24 und 21.5.24 in: Archives Nationales Paris (AN) AJ9-5670
13  Lapointe an de Metz v.11.8.24 in:   AN AJ9-5670
      Tirard an Poincaré o.D. in: AN AJ9-3804
      „Pfälzische Freie Presse“ v. 22.5.24
14   Bericht v.18.5.24 in: BayHStA MA 107 650
15   Bayerische Ministerratssitzung v.23.6.24 in BayHStA MA 99 518
16   Bayerischer Staatskommissar für die Pfalz (Hrsg.), Die Pfalz unter französischer
       Besatzung, München 1925, S.168ff.
17   „Der Eisenhammer“ Nr.7/1926
18   „Der Eisenhammer“ Nr.18/1926
19   Vgl. Hannes Ziegler, Forthuber gegen Foerster, Ein politischer Prozess, in:
        Pfälzer Heimat 40(1989), S.15-26
20    Hans Fenske, Aufmarsch unterm Hakenkreuz. Die pfälzischen Nationalsozialisten bis
        zum 30. Januar 1933, in: Nestler/Ziegler (Hrsg.), Die Pfalz unterm Hakenkreuz, Landau
       1993, S. 11-37, hier: S.31
21   Vgl. NSZ-Rheinfront vom 5.5.1931: „Die Frankenthaler Strafkammer stellt fest...“
22   Siehe Berichte zum sogenannten Römer-Prozess in den pfälzischen Tageszeitungen im
       April 1931
23   Folgende Befunde beruhen auf der Auswertung von etwa 400 Personalüberprüfungsakten
       der Gestapo Neustadt in: Landesarchiv Speyer Bestand H91
24   wie Anm.1
25   Auskunft des Suchdienstes des Internationalen Roten Kreuzes in Arolsen an die
       Nachfahren  v. 28.3.1991
26   Zit. n. einem Zeitungsbericht in: Die Rheinpfalz v. 30.9.1953
 



Home   |  Aktuell   |  Texte   |  Dokumente   |  Gerhard Gräber   |  Matthias Spindler
Alle Rechte vorbehalten.